Zukunft trifft auf Vergangenheit: das Werner-Reichardt-Symposium
Erinnerung an einen Gründungsvater der biologischen Kybernetik
Am 19. April 2024 blickte das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik mit einem Symposium auf das wissenschaftliche Schaffen seines Gründungsdirektors Werner Reichardt zurück. Die Tagung anlässlich des hundertsten Geburtstags Reichardts würdigte dessen wegweisende Beiträge zum Verständnis des Sehens und zu dem damals jungen Forschungsgebiet, das später als Computational Neuroscience bekannt werden sollte. Über 140 Teilnehmende vor Ort und online besuchten die Vorträge, die sich einem breiten Themenspektrum von Wissenschaftsgeschichte bis hin zu aktueller Forschung widmeten.
Das Symposium bot eine Gelegenheit zum Blick zurück ebenso wie nach vorne: Reichardts Werdegang und seine wegweisenden Ideen wurden ebenso diskutiert wie neuere Entwicklungen und Hypothesen.
Werner Ernst Reichardts Leben ist untrennbar mit der Geschichte und der wissenschaftlichen Entwicklung im 20ten Jahrhunderts verwoben. Geboren 1924 in Berlin entwickelte er früh ein Interesse für Physik. Nachdem er als 17-Jähriger zur Luftwaffe eingezogen und dort in einer technischen Einheit eingesetzt wurde, schloss er sich einer Widerstandsgruppe an, die Funkkontakt mit den Westalliierten aufzunehmen versuchte. Als die Gestapo in den letzten Kriegswochen von den Plänen erfuhr, wurde Reichardt zum Tode verurteilt, entging jedoch der Urteilsvollstreckung durch Flucht.
Bereits während seines Militärdiensts hatte Reichardt jenen Freund kennen gelernt, der eine Schlüsselrolle in seiner späteren wissenschaftlichen Laufbahn spielen sollte: den Biologen Bernhard Hassenstein. Reichardt erkannte, dass Hassensteins experimentelle Forschung an Sehsystemen und Flugorientierung von Insekten ähnlich wie Elektronikexperimente formalisiert werden konnte. So entstanden erste interdisziplinäre Theorien des Bewegungssehens.
Ein virtueller Traum wird wahr
Diese Annäherung biologischen und physikalisch-technischen Denkens trug zur Etablierung und schließlich zur Institutionalisierung der noch jungen biologischen Kybernetik in Westdeutschland bei: Im Jahr 1958 gründeten Reichardt, Hassenstein und der Physiker Hans Wenking die „Forschergruppe Kybernetik“ am Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen. Zehn Jahre später wurde aus der Abteilung ein eigenständiges Institut: das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik – „ein wahrgewordener virtueller Traum”, wie es Reichardts wissenschaftlicher Weggefährte Kuno Kirschfeld in seinem historischen Rückblick auf dem Symposium in Worte fasste. Reichardts Kontakte und seine einnehmende Persönlichkeit machten das junge Institut schnell zu einem wichtigen Zentrum für Neurowissenschaftler aus aller Welt.
Reichardt brachte wegweisenden Ideen, Ergebnisse und Methoden ins aufstrebende Gebiet der biologischen Kybernetik ein. Sein Spezialgebiet war die Informationsverarbeitung im Nervensystem von Insekten, insbesondere deren Bewegungssehen. Viele Vorträge auf dem Symposium zeigten eindrücklich, dass Reichardts Ideen auch in der Gegenwart noch fruchtbar sind: Die Synthese von technischem und biologischem Denken und der Fokus auf Sehforschung im Modellorganismus Fruchtfliege, die ganz in der Tradition Reichardtschen Denkens stehen, prägten den Tag.
1992 brach Reichardt am Ende einer Konferenz zu seinen Ehren zusammen und verstarb im Alter von 68 Jahren. Die Strahlkraft seiner Ideen reicht bis in die heutige Zeit hinein und ist unvergessen. Das jetzige Symposium verdeutlichte, dass viele Forschende noch heute auf ihnen aufbauen und das Forschungsgebiet erfolgreich weiterführen.