Wenn Super Mario schwindelig wird

Wie man seine Fantasie nutzen könnte, um einen der größten Gegner in Videospielen zu besiegen: die Kinetose

26. Januar 2021
Ein Team aus Forscherinnen und Forschern vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik Tübingen und dem Universitätsspital Zürich konnte zeigen, dass die Ausprägung von Kinetosesymptomen davon abhängt, ob man überzeugt ist, tatsächlich in Bewegung zu sein. Damit eröffnen sich Perspektiven auf neue Therapiemöglichkeiten.

Wenn man auf einem großen Bildschirm Videospiele spielt oder Filme ansieht, kann man völlig in eine andere Realität abtauchen. Die Kamerabewegungen suggerieren, dass man selbst von Liane zu Liane schwingt oder auf einem Pferd in die Schlacht reitet, während man doch eigentlich nur auf dem Sofa sitzt. Leider kann ein derartiges Scheinerleben von Eigenbewegung Übelkeit und Schwindel verursachen – klassische Symptome der Kinetose, umgangssprachlich oft Reisekrankheit genannt.

Das Wissenschaftlerteam konnte experimentell bestätigen, dass das Auftreten von Kinetose von den eigenen Überzeugungen abhängt. „Man fühlt sich weniger reisekrank, wenn man glaubt, dass man sich wirklich bewegt,“ erklärt Suzanne Nooij vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Diese Erkenntnis könnte ein kostengünstiges Mittel gegen Kinetose liefern: die eigene Fantasie.

Visuelle Illusionen von Bewegung treten auch im Alltag auf: Wenn von einem stehenden Zug aus beobachtet, wie ein Zug auf dem benachbarten Gleis den Bahnhof verlässt, denkt man oft im ersten Moment, dass sich der eigene Zug in Bewegung setzen würde. Dass derartige Scheinbewegungen Kinetose verursachen können, wird üblicherweise mit einem sensorischen Konflikt erklärt: Die Augen registrieren, dass man sich in Bewegung befindet, während das Gleichgewichtsorgan im Innenohr das Gegenteil meldet. Die Forschergruppe konnte experimentell zeigen, dass auch die eigenen Überzeugungen eine wichtige Rolle spielen: Symptome der Kinetose treten vor allem dann auf, wenn man glaubt, dass die wahrgenommene Bewegung nicht der Realität entspricht.

Um den Einfluss der Überzeugungen auf Kinetose zu untersuchen, haben Nooij und ihre Kollegen Freiwillige gebeten, sich auf einen motorisierten Drehstuhl in einer zylindrischen Trommel zu setzen. Den Studienteilnehmern wurde gezeigt, dass Trommel und Drehstuhl sich unabhängig voneinander drehen können; ihnen wurde aber verschwiegen, dass sich während des 20-minütigen Tests tatsächlich nur die Trommel bewegen würde. Während des Experiments gaben die Teilnehmer an, ob sie Eigenrotation wahrnahmen, und zeichneten in 2-minütigen Intervallen auf, wie reisekrank sie sich fühlten. Nach dem Test wurden sie dazu befragt, was ihrer Meinung nach tatsächlich passiert ist.  

Alle Studienteilnehmer nahmen während des Tests zu manchen Zeiten Eigenrotation wahr, aber wie ausgeprägt die Symptome der Kinetose waren, hing von der Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen Eigenbewegung und ihren Überzeugungen über die tatsächliche Bewegung ab. Diejenigen, die ihrer Sinneswahrnehmung Glauben schenkten – also der Meinung waren, dass der Stuhl sich tatsächlich drehte – fühlten sich besser, da ihre Überzeugungen in Einklang mit ihrem Erleben standen. Diejenigen hingegen, die subjektiv ebenfalls Rotation wahrnahmen, sich aber sicher waren, dass der Stuhl in Wirklichkeit unbewegt war, zeigten Symptome.

Diese Ergebnisse zeigen, dass nicht der sensorische Konflikt an sich die Kinetose verursacht, sondern die Diskrepanz zwischen wahrgenommener und für real gehaltener Bewegung. In Suzanne Nooijs Worten: „Anscheinend kommen diejenigen, die ihrer Wahrnehmung glauben, besser mit der wahrgenommenen Bewegung zurecht.“

Die Erkenntnisse der Forschenden könnten dazu beitragen, Kinetose zu bekämpfen. Während es oft schwerfällt, die Wahrnehmung von Bewegung zu beeinflussen, kann es durchaus möglich sein, die eigenen Überzeugungen zu ändern. Die Fantasie scheint ein vielversprechendes Mittel dafür: Ein Astronaut, der im Rahmen eines Kinetosetests simulierten Bewegungen ausgesetzt wurde, berichtete, dass er die Übelkeit unterdrücken konnte, indem er sich vorstellte, die entsprechenden Bewegungen auf einem Fahrgeschäft eines Jahrmarktes zu erleben. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler möchten nun untersuchen, ob mentale Bilder helfen können, Kinetose zu lindern. Wer also beim Spielen am Computer an Übelkeit oder Schwindel leidet, muss vielleicht einfach seiner Fantasie freien Lauf lassen. 

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