Wie das Gehirn entscheidet, was wir wahrnehmen

Der präfrontale Cortex reguliert, welche Informationen ins Bewusstsein dringen

13. April 2023

Wahrnehmung ist immer selektiv: Das Gehirn entscheidet ständig, welche Informationen wichtig genug sind, um ins Bewusstsein vorgelassen zu werden. Ein internationales Forschungsteam hat nun untersucht, welche Gehirnaktivitäten mit Änderungen in der subjektiven Wahrnehmung einhergehen, und dabei charakteristische Muster von Gehirnwellen im präfrontalen Cortex gefunden. Die nun in der Fachzeitschrift Neuron erschienenen Ergebnisse könnten dazu beitragen, unser Verständnis von Bewusstsein voranzubringen.
 

Sehen und Wahrnehmen sind zwei verschiedene Dinge: Ein Großteil der Informationen, die permanent von den Sinnesorganes ins Gehirn strömen, wird nicht bewusst verarbeitet. Komplexe Mechanismen filtern die eingehende Sinnesinformation und gestalten das Bild der Welt, das in unseren Köpfen entsteht.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Phänomen der binokularen Rivalität: Wenn dem rechten Auge ein Apfel und gleichzeitig dem linken Auge eine Rose gezeigt wird – was beispielsweise mit Hilfe einer Spiegelkonstruktion möglich ist –, können wir niemals beide Objekte gleichzeitig wahrnehmen. Vielmehr sehen wir manchmal bewusst die Rose, dann wieder den Apfel. Die Wahrnehmung wechselt spontan, ohne Einfluss äußerer Reize, vom einen zum anderen Objekt. Das wirft die Frage auf, welche Mechanismen am Werk sind, wenn das Bewusstsein umschaltet.   

Gehirnwellen – Türhüter des Bewusstseins

Max-Planck-Forscher haben nun zur Aufklärung dieser Frage beigetragen: Anhand der Gehirnwellen im präfrontalen Cortex, einem Bereich der Großhirnrinde, der für komplexe Verhaltensweisen wie Entscheidungsfindung und Problemlösung wichtig ist, lassen sich die Wechsel in der Wahrnehmung vorhersagen. Gehirnwellen sind im gesunden Gehirn immer präsent; sie entstehen dadurch, dass Gruppen von Neuronen ihre Aktivität synchronisieren. Betawellen beispielsweise werden üblicherweise mit aktivem Nachdenken und Konzentration in Verbindung gebracht, während gewisse langsamere Wellen eine wichtige Rolle für Schlaf und Erholung spielen.
„Wir haben typische Muster gefunden, wie sich die Aktivität im Bereich von niedrigfrequenten (1 bis 9 Hertz) und Betawellen (20 bis 40 Hertz) unmittelbar vor einem Wahrnehmungswechsel ändert“, sagt Abhilash Dwarakanath, der vormals in der Abteilung Physiologie kognitiver Prozesse am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen arbeitete und nun am Institut NeuroSpin in Paris arbeitet. Gemeinsam mit Vishal Kapoor, der ebenfalls in Logothetis’ Team war und nun Projektleiter am International Center for Primate Brain Research in Shanghai ist, war Dwarakanath federführend bei der Interpretation der Daten, die aus elektrophysiologischen Messungen an Makakenaffen stammen.
Die Ergebnisse stellen eine weitverbreitete neurowissenschaftliche Auffassung in Frage. Im primären visuellen Cortex, wo die visuellen Rohdaten zuerst ankommen, sind manche Neuronen ausschließlich für Informationen aus einem der beiden Augen zuständig. Bislang führten Forschende die Wahrnehmungswechsel darauf zurück, dass diese Neuronen miteinander im Wettstreit liegen und um Aufmerksamkeit konkurrieren. „Man glaubte lange, dass die Impulse einzelner Neuronen ausschlaggebend für bewusste Wahrnehmung seien“, sagt Dwarakanath. „Doch nun stellt sich heraus, dass die langsamen Schwingungen größerer Gehirnregionen die eigentliche Arbeit erledigen; sie entscheiden als Türhüter, welche Sinnesinformation Zugang zu unserem Bewusstsein bekommt.“

Weiterentwicklung einer Bewusstseinstheorie

Dwarakanath betont, es sei unmöglich, Bewusstseinsinhalte aus den Gehirnwellen abzulesen: „Wir können nur sagen, dass das ein bestimmtes Muster der Wellen verlässlich von einem Wechsel in der Wahrnehmung gefolgt wird; Bewusstseinsinhalte können wir aus den Wellen nicht dekodieren.“ Weiter gibt er zu bedenken, es sei unmöglich, aus den Daten abzuleiten, ob die Gehirnwellenmuster den Wechsel verursachen oder ob sie ihm lediglich vorangehen.
Die Ergebnisse berührt eine tiefergreifende Frage, über die in Philosophie und Neurowissenschaft gleichermaßen gestritten wird: Wie können bewusste Erfahrungen im Gehirn entstehen? Theofanis Panagiotaropoulos, der das Projekt konzipierte und leitete, nennt die neuen Ergebnisse eine „Verfeinerung der Globalen Arbeitsraumtheorie“, einer Bewusstseinstheorie, die dem präfrontalen Cortex eine zentrale Rolle zuschreibt. Panagiotaropoulos ist an einem großangelegten Kollaborationsprojekt beteiligt, das die beiden konkurrierenden Haupttheorien des Bewusstseins gegeneinander testet. Er ist zuversichtlich, dass die Erkenntnisse seines Teams zu wechselnden Wahrnehmungsinhalten die Neurowissenschaft auf dem Weg zu einer genauen und zutreffenden Bewusstseinstheorie einen Schritt weiterbringen werden.

Zur Redakteursansicht