Neurokybernetik im Dialog mit Künstlicher Intelligenz

Wechselseitige Impulse in der Forschung treiben Innovationen voran

24. Mai 2024

Der große Durchbruch der Kybernetik war die Erkenntnis, dass Rückkopplungsschleifen auf der Basis von Informationen fast alle komplexe Systeme antreiben – egal ob Maschinen, biologische Organismen, Wirtschaftssysteme oder Gesellschaften. Die Einsicht hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf zwei Fachgebiete, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen steckten: die Neurowissenschaften und die Informatik, insbesondere die Forschungen zur Künstlichen Intelligenz (KI).
 

Das neue kybernetische Verständnis sorgte nicht nur für Innovationen in diesen beiden Disziplinen. Vielmehr verflochten sich die Neurowissenschaften und die Informatik mit der immer schneller voranschreitenden Hard- und Softwareentwicklung auf eine Weise, die unsere Zukunft grundlegend prägen könnte. Denn einerseits nahmen sich die Entwickler von KI-Algorithmen die neuronalen Schaltkreise des Gehirns zum Vorbild. Andererseits erforschen Wissenschaftler bereits Wege, um KI-Technologien direkt mit dem menschlichen Gehirn zu verbinden.

Das Perzeptron: eines der ersten künstlichen neuronalen Netze

Bereits frühe Kybernetiker wie John von Neumann hatten die Idee, dass Rechner die kognitiven Prozesse des menschlichen Gehirns nachahmen könnten. Einer der Ersten, der das praktisch umsetzte, war der US-Psychologe Frank Rosenblatt in den 1950er Jahren. Er konzipierte ein simples neuronales Netzwerk namens Perzeptron.
 
Rosenblatts Perzeptron beruhte auf einer frühen Erkenntnis von Neurowissenschaftlern, dass das Gehirn Erinnerungen und Lerninhalte speichert, indem es die synaptischen Verbindungen zwischen einzelnen Neuronen verstärkt oder abschwächt. Analog passte das Perzeptron die Stärken in einem elektrischen Schaltkreis an, um einfach Muster zu erlernen und zu klassifizieren. Der gleiche Mechanismus kommt bis heute in modernen Sprachmodellen und KI-Systemen zum Einsatz.

Andere Kybernetiker wie der Brite William Grey Walter bauten sogar kleine Roboter mit hirnähnlichen Schaltkreisen. Walters künstliche Schildkröten – die jeweils aus zwei Ventilen, zwei Relais, zwei Motoren, zwei Kondensatoren und einem Sensor für Licht oder Berührung bestanden – schafften es, einfache Tricks zu lernen, etwa auf einen Pfeifton zu reagieren.
 
Informatiker nutzten Einsichten aus der Hirnforschung aber auch, um Maschinen das „Sehen“ beizubringen – zu unterscheiden, ob ein Bild eine Katze, einen Apfel oder eine Brücke zeigt. Neurowissenschaftler erkannten in den 1950er und 60er Jahren, dass das Gehirn komplexe Bilder verarbeitet, indem es Grundbausteine wie Kanten mittels spezieller Nervenzellen erkennt. Basierend darauf entwickelten Informatiker Computernetzwerke, die Bilder in ähnlicher Weise in Elemente zerlegen und analysieren können.
 
Der Funktionsweise unseres Gehirns nachempfunden sind zudem KI-Aspekte wie fokussierte Aufmerksamkeit, verstärkendes Lernen und die Verarbeitung komplexer hierarchischer Daten.

Maschinen lernen anders als Menschen

Es dauerte allerdings Jahrzehnte, bis die Computer leistungsstark genug für Aufgaben wie eine komplexere Spracherkennung und Textverarbeitung wurden. Und selbst die modernsten Sprachmodelle kommen dem menschlichen Gehirn nicht gleich. Sie mögen den Menschen in Bereichen wie der Mustererkennung oder Datenanalyse übertreffen, weil sie Informationen über massive und parallel geschaltete Netzwerke verarbeiten – statt schrittweise und sequenziell wie das Gehirn. Doch ihr Lernprozess funktioniert grundlegend anders.

Menschen müssen etwas Neues oft nur einmal sehen, um es zu lernen. Wir können auch Probleme lösen, mit denen wir zuvor noch nie konfrontiert waren.
 
KI-Systeme hingegen müssen mit Hunderten von Beispielen trainiert werden, bevor sie eine Fertigkeit meistern. Und eine ungewohnte Situation wirft sie leicht aus der Bahn. Eine KI, die mit Bildern sonnenbeschienener Autos trainiert wurde, mag etwa schneebedeckte Pkws nicht als solche erkennen.
 
Auch arbeitet das Gehirn weitaus effizienter. Es verbraucht nur rund 20 Watt an Energie in einer Stunde – etwa halb so viel wie ein modernes Laptop. Doch KI-Systeme verschlingen hunderttausende Mal mehr Energie.
 
Dennoch ähneln die Aktivitätsmuster neuronaler Netzwerke inzwischen denen biologischer Gehirne in Teilen so sehr, dass Neurowissenschaftler sie nutzen, um Theorien zur Gehirnfunktion zu testen. KI hilft ihnen auch, die oft gewaltigen Datenmengen aus Kognitionsstudien auszuwerten.

Integration von künstlicher und biologischer Intelligenz

In der Neurokybernetik entwickeln Neurowissenschaftler Gehirn-Computer-Schnittstellen (englisch: brain-computer interface), um künstliche Systeme ins Gehirn zu integrieren. Neurochirurgen haben beispielsweise begonnen, Elektroden in den Kopf von Patienten einzusetzen, die an schweren neurologischen Erkrankungen leiden.

Andere, nicht-invasive BCI-Systeme registrieren die Gehirnaktivität außerhalb des Kopfes und schalten etwa E-Mail-Benachrichtigungen aus, wenn sie registrieren, dass der Nutzer hoch konzentriert an anderen Aufgaben arbeitet. Es wird auch damit experimentiert, Smartphone-Apps, Smart-Home-Geräte und Drohnen alleine über BCIs, also Gedankensteuerung, steuern zu können.

In Deutschland arbeiten seit Mai 2023 rund 50 Expertinnen und Experten aus der Biomedizin, Neuromechanik, Neurowissenschaft, Informatik und anderen Gebieten daran, bionische Systeme zu entwickeln, also Systeme, die eine Brücke zwischen biologischen Strukturen und technischen Anwendungen schlagen. Genannt BITS, für Zentrum Bionic Intelligence Tübingen Stuttgart, ist die interdisziplinäre Forschungsinitiative Teil des Cyber Valleys, Europas größter Forschungskooperation für Robotik und künstliche Intelligenz. Die BITS-Projekte reichen von robotischen Orthesen über tragbare Sensoren, die bei Zwangsstörungen eingesetzt werden können, bis zu neuen Formen der Hirnstimulation.
 
Die Zukunft der Neurokybernetik könnte Gehirn-Implantate bringen, die das menschliche Lernen und Erinnerungsvermögen verbessern. Damit würde sich die These der frühen Kybernetiker bestätigen – dass biologische und künstliche Systeme letztlich ganz ähnlich funktionieren.

 

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